2. Vers

Wenn ich sage: "nennen wir schönes schön, ist es darum nicht schön" etc. so gibt es Interpreten, die es dahin auslegen etwas schön zu nennen sei unschön, etwas gut zu nennen, sei ungut. Ich möchte nicht moralisieren, denke auch, Laozi lag das fern. Schönes schön zu finden ist wohl nicht verwerflich, aber darin bedingt, dass wir anderes nicht schön finden. Auch in den folgenden Sätzen zeigt uns der zweite Vers die gegenseitige Relativierung, geht es um die Bedingung der Erscheinungen. Das Gesetz von Yin und Yang wird angesprochen. 
Interessant wird es, was Im Text daraus gefolgert wird: Daher kann der Weise (shengren 聖人, ein Mensch, der Ohr und Mund beherrscht) wandeln ohne zu handeln... weil er sich das Gesetz zu eigen macht, weil er die Erscheinungen und Ereignisse aus sich selbst, aus ihrer gegenseitigen Bedingtheit zulässt, weil es aus sich heraus entsteht und vergeht. So folgt der Weise den Regeln des Himmels, den natürlichen Gegebenheiten. Wie in der Natur die Dinge kommen und gehen, gezeugt werden, eine Weile sind und nichts bewahrt wird, nichts bleibt, sondern wieder verschwindet im Dunkel, so hält auch er an nichts fest, versucht nichts zu halten, da es doch auf natürliche Weise kommt und geht. Andauernd, ohne Ende, vollendet sich die Schöpfung, in jedem Augenblick. Weil es nicht verweilt, weilt es endlos. 
Mit diesem Schluss schließt Laozi wieder den Kreis, kehrt an den Anfang des Verses zurück, zum ewigen sich gegenseitig hervorbringenden "Schönen" und auf uns zurückgeworfenen Bewerten. Wenn wir nichts bewerten, wollen wir auch nichts halten. 

1 Vers

Gleich im ersten Vers zeigt uns Laozi, wie er mit seiner Sprache umgeht. Er spielt damit. 
Der Begriff Dao wurde im alten China ursprünglich für den Lauf der Gestirne benutzt. Ob schon zu Laozis Zeiten eine Ausweitung auf das menschliche Leben vorgenommen worden war, oder durch seine Anwendung diese Deutung bekam, kann ich leider nicht sagen. Laut Ren Jiyu findet sich der Begriff erst bei Laozi als höchst philosophischer Ausdruck. Aber auch im Dao de Jing wird das Zeichen Dao gelegentlich auch in seiner Bedeutung von Weg, Straße benutzt. Jedenfalls wurde das gleiche Zeichen auch für reden, sagen, über etwas sprechen verwendet und so verwendet es auch Laozi. Dao ke dao fei chang dao. Das Dao von welchem wir reden können ist nicht das dauerhafte Dao. Indem wir reden, legen wir fest, aber Dao ist nicht festzulegen. 
Das gleiche Spiel in der zweiten Zeile: ming ke ming fei chang ming
Ming einmal als Name, Bezeichnung, als Nomen benutzt und dann gleich als Verb. Wir können in der Übersetzung dieses Spiel nur bedingt mitmachen. Der Name ist nicht das Benannte, die Landkarte ist nicht die Landschaft. 

Wofür wir keinen Namen haben, das, was jenseits des Benennbaren, Erklärbaren liegt, was nicht ist, das sei der Anfang von Himmel und Erde. Diese beiden, Himmel und Erde sind die synonymen Erscheinungsformen von Yang und Yin, aus ihrem Zusammenspiel, dadurch, dass wir sie schon benennen, kommen die 10.000 Dinge. Später geht Laozi näher darauf ein. Sobald wir Namen geben, beginnen die Dinge zu existieren. Wir machen Unterschiede.
Ohne Verlangen, wenn der Geist ruhig ist und nicht unterscheidet, sind wir fähig, das Geheime zu sehen. Gerät der Geist in Unruhe, und sei es nur um das Geheime zu beschreiben, so zeigen sich uns die Formen, die erkennbare Welt. 
Tatsächlich besteht kein Unterschied, aber die Zeichen, die wir benutzen sind andere.  Wir wissen nicht, woher es kommt und wir wissen nicht, wohin es entschwindet. Was gerade noch war, ist schon vorbei. Auftauchen und wieder untertauchen. Das Dunkle im Dunklen. Ein Geheimnis muss für immer ein Geheimnis bleiben. 

Kap.1 dao ke dao

Der Begriff des dao wurde wohl ursprünglich für den Lauf der Gestirne verwendet. Anfänglich vielleicht sogar nur für die wechselnden Ansichten unseres Trabanten. Er hat etwas veränderliches und etwas verlässliches. Er zieht seine Bahn, die wohl fest steht wie auch sein Erscheinungsbild des Zunehmens und Abnehmens. Wie die sich mehrenden und wieder mindernden Zeichen des Yi Jing.
Aber zu Laozis Zeiten hatte sich die Bedeutung schon gewandelt, hatte alle Teile der Natur mit eingeschlossen und das menschliche Schicksal, sein Lebensweg, war inzwischen auch zum dao geworden.
Der dao weg ist kein Weg, der unter deinen Füßen entsteht, der wird, indem man ihn geht. Der dao weg ist eine feste Bahn, ein großer, gerader weg, wie in Kap. 53 gesagt wird. Es ist ein Weg wie ein Flusslauf, und auch Methode. Diesem Weg zu folgen, wird de genannt, was zumeist mit Tugend übersetzt wird.
Folgen wir einem Weg, wandeln wir auf ihm, wandelt sich auch der Weg. So meine ich mit dem Wandel im Titel nicht die Wandlung, wie sie im Yi Jing angesprochen wird, welches den Wechsel von einer Situation in eine andere meint, sondern den Wandel des sich beWEGens auf dem Weg, ihm zu folgen als die Anwendung einer Methode, die Tugend der Selbstkultivierung oder der Entwicklung, welche auch das Vollziehen eines Wandels meint. Daher meine Übersetzung Buch vom Weg und Wandel.

dao ke dao heißt die erste Zeile. Zwei Mal dao, aber zwei verschiedene, auch wenn es das gleiche Schriftzeichen ist. Es ist auch das zeigen, darüber reden, sprechen. So der Weg eine Methode ist, eine Art und Weise, wie die Ereignisse sich fügen, so ist es ein weisen, verweisen darauf, was wir versuchen können, aber damit nicht alles sagen. Worauf wir weisen, ist was wir wissen und Wissen ist nicht von Dauer.

Vorwort 1. Version

Wohl kein Text wurde so oft und vielfältig veröffentlicht, übersetzt, interpretiert und verhunzt wie das Buch Dao De Jing (Tao Te King) von Laozi (Lao Tse). Eine neuerliche Bearbeitung scheint daher genauso fragwürdig wie geboten.
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts legte Gia Fu Feng (gest. 1985) eine gut lesbare und entmystifizierte Bearbeitung vor.(hervorragend ins Deutsche übertragen von Silvia Luetjohann und erschienen bei Irisiana/Hugendubel). Anfang der 80er begann Gia Fu eine neue Übersetzung, an der ich beteiligt war. Diese wich nur marginal von seiner ersten Arbeit ab. Mir reichte diese Version für meine privaten Studien, bis ich auf eine alte Übersetzung des sechsten Kapitels von de Groot stieß, die völlig andere Interpretationen bot. Von da an begann ich, mich ausführlicher mit dem Original, soweit man bei den überlieferten Texten davon sprechen kann, zu beschäftigen. Meine Kenntnisse der chinesischen Sprache sind nur gering. Jedoch merkte ich schon bald, dass die literarische Qualität meist auf Kosten der hinein interpretierten bzw. heraus gelesenen „Weisheiten“ verloren ging.
Meine Arbeit orientiert sich folglich an der Sprache. Die einzelnen Schriftzeichen werden dabei nicht unbedingt „wörtlich“ übersetzt, sondern mitunter ethymologisch untersucht und ein entsprechendes Pendant gewählt. Das Fehlen von Interpunktion wird beibehalten und die gelegentliche Undeutlichkeit, ob das Zeichen z.B. Substantiv oder Verb ist, wird durch konsequente Kleinschreibung zumindest angedeutet.
Hierbei bleibt die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten in hohem Maß erhalten. Ich lege hiermi kein Weisheitsbuch vor, sondern eher ein Bändchen moderner Lyrik.

Bald als Buch

an dieser Stelle beende ich die Online-Veröffentlichungen meiner neuen Übertragung des Laozi. Noch in diesem Jahr soll die komplette neue Bearbeitung als Buch erscheinen. Ich werde an dieser Stelle und in meinen Newsletter darüber informieren.
Danach werde ich auf diesem Blog in lockerer Folge anstelle der Übersetzungen erläutern, welche besonderen Entscheidungen jeweils getroffen wurden, weshalb meine Texte mitunter von anderen erheblich abweichen und welche Alternativen zur Diskussion standen.
Ich habe bewusst darauf verzichtet, die Texte im Buch zu kommentieren. Dort sollen sie ruhig und für sich stehen, teilweise illustriert mit Fotos, die alle in Wudangshan aufgenommen wurden.

35


wer hält in händen
die grosse gestalt
dem kommt die welt abhanden 

kommt abhanden ohne schaden 
erhält ruhe gleichmass frieden 

teilhaben am lachen mag wandernde locken 
den weg zu verlassen
den weg in worte fassen verwässert
schmeckt fad

schauend gibt es nichts zu sehen 
lauschend gibt es nichts zu hören 
nutzend gibt es nichts zu vollenden

34


groß ist der weg
überströmend 
zu allen seiten
alles erscheint
ihm überlassen
weist nichts ab
vollendet sein werk
verschwendet kein wort

kleidet und speist
was alles erscheint
nennt es nicht sein eigen
bleibt ohne verlangen
bescheiden klein

alles kehrt hierher heim
nennt es nicht sein eigen
vereinend groß

nicht groß in sich selbst
vollendet er großes